Türkei vor den Parlamentswahlen – Erdoğans Politik der Demütigung

Polizei dringt am 27. 10. 2015 bei Ipek Media ein

Polizei dringt am 27. 10. 2015 bei Ipek Media ein

Seit Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei, die AKP, bei den Wahlen im Juni die Zwei-Drittel-Mehrheit verloren haben, gehen in der Türkei Angst und Gewalt um. Erdoğan, der autokratisch regierende Präsident, versucht mit allen Mitteln, den Staat unter seine Kontrolle zu bringen. Nachdem er den Krieg gegen die kurdische Guerrilla-Bewegung PKK neu entfachte, geht er nun gegen oppositionelle Medien vor. Seine Hoffnung: Im Chaos werden die Menschen sich wieder hinter ihm, dem starken, mächtigen Führer und seiner AKP vereinen. Doch es scheint, als würde die Rechnung nicht aufgehen.

HDP als Spielverderberin

Es war die Kurdenpartei HDP, die Erdoğan im Junı den Spaß vermasselte. Die HDP, mit ihrem Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, bekam 13 Prozent der Stimmen und zog damit ins Parlament in Ankara ein. Damit aber war die Verfassungsmehrheit für die AKP dahin. Das konnte und wollte Erdoğan nie akzeptieren und schon nach Kurzem war klar, es wird am 1. November eine Wiederholung der Wahl geben, in der die AKP auf ein gefälliges Ergebnis hofft. Die Zeit zwischen diesen beiden Urnengängen nutzte Erdoğan, im ganzen Land Unruhe zu stiften und sämtliche menschenrechtlichen Standards zu untergraben.

Zunächst kündige er den Friedensprozess mit der PKK auf und schickte wieder Truppen in den Südosten des Landes. Vieles erinnert – vor allem die Kurd_innen – heute an den blutigen Krieg der 1980er-Jahre, als ganze Landstricke entvölkert, ganze Dörfer niedergebrannt wurden, als die Folter das übliche Mittel war, mit Kurd_innen und Oppositionellen im Allgemeinen umzugehen. Seit August fliegt die türkische Luftwaffe wieder Angriffe auf PKK-Stellungen im benachbarten Irak, sowie in der Türkei selbst. Gefechte am Boden sind Alltag geworden in kurdischen Städten, Hunderte wurden verhaftet und wir dürfen davon ausgehen, die türkischen Folterknechte haben wieder alle Hände voll zu tun dieser Tage. Die so gewaltsam angesprochene PKK reagierte erwartungsgemäß mit Bombenanschlägen auf türkische Einrichtungen und mit der Ausrufung von Autonomie in mehreren Städten. Damit konnte Erdoğan nun arbeiten. Er behauptet, die PKK würde die Einheit des Landes gefährden und er sei der Retter von Atatürks Erbe und der Türkei an und für sich.

Politik der Demütigung

Die Kurd_innen haben seither eine Politik der Demütigung über sich ergehen lassen müssen. Zwei Bombenanschläge, einer gegen ihre Sympathisanten in Suruc und einer gegen ihre Partei in Ankara, töteten fast 140 Menschen und die Regierung versucht alles, diese Anschläge mit fadenscheinigsten Argumenten der PKK in die Schuhe zu schieben. Die Botschaft lautet, die PKK selbst ermorde Kurd_innen zu politischen Zwecken. Glauben kann das kaum jemand, alle Spuren weisen auf den so genannten Islamischen Staat als Urheber der Attentate hin. Der IS ist sauer, weil die Kurd_innen in Syrien die einzigen sind, die ihn bisher effektiv bekämpften, während Erdoğan die totalitären Djihadisten wie Freunde in der Türkei jahrelang gewähren und sich organisieren ließ. In den letzten Wochen übernahm zumeist Premierminister Ahmet Davutoğlu die Rolle, auf eine mögliche Verwicklung der PKK in die Attentate hinzuweisen. Dafür wurde bisher kaum etwas geliefert, das die Bezeichnung Beweis verdienen würde, doch es hört nicht auf. Auch das ist ein Akt der Demütigung.

Der Leichnam von Lokman Birlik, einem gefallen PKK-Kämpfer, wird an Polizeifahrzeug durch die Stadt geschleift.

Der Leichnam von Lokman Birlik, einem gefallen PKK-Kämpfer, wird an Polizeifahrzeug durch die Stadt geschleift.

Der Gipfel der Demütigung: Nach Gefechten Anfang Oktober in Sirnak, ganz im Südosten des Landes, wird der Leichnam eines PKK-Guerrillero von einem gepanzerten Polizeifahrzeug durch die Straßen geschleift. Premierminister Davutoglu wird wenig später mit den Worten zitiert: „Die beiden Polizeibeamten wurden des Amtes enthoben, weil sie das Video drehten und dieses Verhalten zur Schau stellten und weil sie einen Schatten auf die Legitimität der […]Terroroperationen warfen.“ Sie wurden also nicht entlassen, weil sie diesen Akt kollektiver Demütigung setzten, sondern weil er außerhalb des Adressatenkreises bekannt werden konnte.

Gleichzeitig gingen in den letzten Wochen nach äußerst aggressiven Ansprachen des Präsidenten wiederholt Parteieinrichtungen der HDP in Flammen auf, Lynchmobs gingen in mehrere Städten gegen kurdischen Einrichtungen und Geschäfte los. Es ist wieder richtig gefährlich geworden, ein_e Kurd_in in der Türkei zu sein.

Feindliche Übernahme

Um mit solchen Aktionen durchzukommen, mag es helfen, wenn die Presse ganz klar aufseiten der Staatsmacht gehalten werden kann. Hier hat nicht Davutoğlu, sondern Erdoğan selbst die Rolle des Scharfmachers übernommen. Laufend werden Medien belangt, weil sie den Präsidenten „beleidigt“ hätten, was ein Straftatbestand ist, dessen Existenz der Präsident voll und ganz auskostet. Als unlängst eine regierungskritischer Journalist auf offener Straße verprügelt wurde, wunderte sich schon lange keiner mehr wirklich darüber. Die Inhaftierung von Journalist_innen gehört seit Jahren zum Standardprogramm der AKP-Regierungen.

Mit der Übernahme eines ganzen Medienkonzernes durch die Polizei und die Installierung von Kommissären, die den Konzern nun verwalten, ist Erdogan nun aber einen Schritt weiter gegangen, als kurzfristig zu vermuten war. Knapp eine Woche vor den vorgezogenen Neuwahlen am 1. November, stürmt der türkische Staat per Gerichtsbeschluss kritische TV-Sender, Internetportale und Zeitungen. Kaum sind die Sender geschluckt, kündigt die zweite Reihe der AKP bereits an, nach den Wahlen werde es in diesem Ton weitergehen.

Screenshot von bgnnews.com, der Homepage eines betroffenen Senders.

Screenshot von bgnnews.com, der Homepage eines betroffenen Senders.

Lynchmobs und Stoßtrupps

Der Putsch als politisches Mittel ist den Einwohner_innen der Republik Türkei nicht fremd, doch wurden diese bisher immer vom Militär orchestriert. Die Machtübernahme einer Partei ist der Geschichte des Landes aber noch fremd. Das könnte sich möglicherweise bald ändern. Wenn die AKP die Wahlen nicht gewinnt, sind Chaos und Bürgerkrieg zu erwarten. Weitere Medienunternehmen werden geschlossen werden oder mit ruinösen Strafen zum Schweigen gebracht. Dass die AKP bzw. deren Vorfeldorganisationen auch Lynchmobs und Stoßtrupps auf die Straße bringen kann, hat sie ebenfalls eindrucksvoll bewiesen.

Meinungsumfragen sind Meinungsumfragen sind Meinungsumfragen. Aber es deutet derzeit alles darauf hin, das künftige Parlament werde ganz ähnlich aussehen, wie das derzeitige. Es sieht also so aus, als würde Erdoğan auf dem Weg der demokratischen Wahlen nicht seinen Willen bekommen. Wir werden sehen, was ihm dann einfällt. Kurd_in oder Journalist_in zu sein, wird dann aber bestimmt nicht einfacher sein als heute.

Der Körper von Lokman Birlik wird durch die Stadt geschleift. Eher nur für Hartgesottene.

Die Polizei Stürmt das Gebäude von Ipek Media

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